Samstag, 9. Januar 2010

Der neue Arbeitstag

von Frigga Haug

Wie wäre es, wenn man in der herkömmlichen Erwerbsarbeit nur mehr vier Stunden zubrächte und über die freigewordene Zeit selbst verfügen könnte, statt andere einseitige Verfügung zuzulassen. Das Leben ist mehr als Erwerbsarbeit
  • ihre Bedeutung gehört abgewertet. Das Miteinander, die Aufeinander-Angewiesenheit braucht unbedingt mehr Zeit – nennen wir sie Zeit für Kinder, Alte, Nächste, Freunde und für alles Lebendige um uns, das mehr und mehr verkommt. Dass wir das nicht so ohne Weiteres verschieben können, stößt auf die politökonomische Grenze der Kapitalverhältnisse
  • noch lassen sich größere Profite erringen, wenn weniger Menschen länger arbeiten, und ihre Leben ganz den Kompetenzen, die es auch zum Profitmachen braucht, verschreiben.
Aber wir könnten als anzustrebendes Ziel uns vorstellen und einfordern, dass auf jedem Vollzeitarbeitsplatz zwei Menschen sich die Arbeit teilen. Das erledigt sogleich das Problem der Arbeitslosigkeit, wir hätten dann mehr Arbeitsplätze als Menschen, die sich darauf bewerben – so können wir uns auch endlich der Qualität der Arbeiten und ihrer Angemessenheit an menschlichen Fähigkeiten und ihrer Entwicklung zuwenden.

Politik um Arbeit

Die neuen Halbzeit-Arbeitsplätze sollten langfristig am besten quotiert sein nach Geschlecht, das bringt die unterschiedlichen Erfahrungen humanisierend ein. Gemeinsam kann die Qualität der Erwerbsarbeit verbessert werden. Es sollen gute Arbeitsplätze sein und ihr Zuschnitt nicht so, dass alles Schlechte auf einem Haufen landet, auf dem anderen nur das qualifizierte, herausfordernde Kreative. Es ist klar, dass es für einen anderen Zuschnitt der Arbeiten ebenso die Zustimmung aller braucht wie eine Politik um Arbeit, die dies verfolgt. Solche Veränderung der Arbeitsteilung braucht die Veränderung der beteiligten Personen, Selbstveränderung, die man selbst in die Wege leitet.
Die außergewöhnliche Humanisierung, die so in die Einzelarbeiten käme, setzt sich fort in der Zuständigkeit aller für alle Lebensreproduktion, welches ja die Entfaltung sozialer Fähigkeiten bedeutet. Veranschlagen wir dafür weitere vier Stunden. Es ist nicht einzusehen, warum solche Menschlichkeit nur dem weiblichen Geschlecht zukommen soll. Es betrifft ebenso alle Männer im Sinne einer Bereicherung.

Es ist ein Experiment

Da Ökonomie und Politik gegen solche Verschiebung an den alten jetzt in große Krise geratenen Verteilungen festhalten wollen, liegt es unmittelbar auf der Hand, dass die Einrichtung der Gesellschaft, was wir Politik nennen wollen, von allen gelernt und gemacht werden muss. Es ist ein Experiment. Dafür brauchen wir weitere vier Stunden, um die verfahrenen und in einer Sackgasse steckende Gesellschaft in eine lebendige demokratische Gemeinschaft zu verwandeln.
Und jetzt erst, nachdem diese gesellschaftlich notwendigen Dinge geordnet sind, können wir auch daran gehen, die Träume unserer Jugend, das, was in uns schlummert, in die Wirklichkeit zu bringen und in Muße und Genuss, in Anstrengung und Freundlichkeit uns selbst als Zweck setzen.

Die neue Vollzeit ist Teilzeit

In dieser vier-in-einem-Perspektive wird selbstverständlich klar, dass Teilzeitarbeit für alle die unbedingte Losung ist. Sie ist selbst ein Lernprozess, eine Herausforderung an uns alle, die uns zum Nachdenken über unsere Gewohnheiten und Vorurteile anstiftet, die sogleich eine Selbstveränderung in Gang setzt, die uns bewusst macht, dass wir ein anderes Zeitregime für unsere Lebensweise brauchen, das wir gemeinsam erstreiten.
Formulieren wir die Forderung jetzt um in die einfache Forderung nach radikaler Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, der jeder mit Kraft und Leidenschaft zustimmen kann, weil wir die anderen Stunden brauchen für die Freiheit einer bewussten Verfügung über ein gemeinsames Humanisierungsprojekt, in dem klar ist, dass es keine Herabwürdigung des Lebens und der Personen ist, einer Teilzeitarbeit nachzugehen, sondern die derzeit einzige Möglichkeit ihrer Würdigung als Menschen. Teilzeit ist die neue Vollzeit, womit beide Begriffe aufgehört haben, etwas sinnvoll zu bezeichnen und beständig zu sein.
An ihre Stelle rückt die Forderung nach einem menschlichen Leben mit Zeit für die Erledigung des Notwendigen, des sich Kümmerns um Leben und seine Bedingungen, um die eigene Entwicklung und die notwendige Muße, um die politische Gestaltung und Einrichtung der Gesellschaft.
Teilzeitarbeit für alle ist eine Losung, die ständig beraten werden will. Sie ändert das gültige Zeitregime, sie löst das Problem der Arbeitslosigkeit, sie zielt auf Frauengleichstellung, auf die Verbesserung der Arbeiten, auf das Ziel eines guten Lebens. Es wird ein langer Weg, setzen wir uns zusammen und fangen wir an.

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Freitag, 8. Januar 2010

Beginne es

Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war,
stets kannst du im Heute von neuem beginnen.
Was immer Du tun kannst oder erträumst zu können, beginne es.
Kühnheit besitzt Genie, Macht, und magische Kraft!
Beginne es jetzt!

J.W. von Goethe

Sonntag, 27. Dezember 2009

Mut zur Abhängigkeit

Kennst du Spiral Dynamics? Aus meiner Sicht ein sehr ausgereiftes Entwicklungsmodell, dass die Stufen der menschlichen Bewusstseinsebenen - indidividuell wie kollektiv - zu erfassen versucht. Das Spannende ist für mich, dass sich je eine Stufe sehr auf das Kollektiv, auf die "Gemeinschaft" orientiert, während die darauffolgende Ebene wieder sehr selbstbezogen wirkt, Unabhängigkeit und eigener Wille im Vordergrund stehen.

Frei-Sein

Ich bin tief überzeugt, dass wir als Menschen nicht nur frei sind, sondern unsere Freiheit auch leben wollen. Das Wissen alleine darüber führt zu nichts, auch wenn das schon eine radikale Einsicht sein kann und großen Mut braucht, diese Verantwortung auch wirklich zu übernehmen. Der ersehnte Ausbruch passiert meist im außen, wir denken, wenn wir frei entscheiden können, wo wir leben und was wir konsumieren können, wären wir freie Wesen. Unter Freiheit versteh ich weit mehr, der Ruf der Welt soll mich wirklich meinen Platz in der Welt finden lassen.

Zuhause ankommen

Bei mir hat dieser Prozess viel mit verabschieden zu tun.
Einschläfernde Strukturen, Muster und Gewohnheiten der Sicherheit, die sich beharrlich einschleichen, versuche ich immer wieder zu erkennen und dann wirklich voll da zu stehen und zu sagen: Hey, ich steige voll ins Leben ein. Ja, und je mehr ich auch meine Unsicherheiten ausspreche, desto kleiner werden sie, desto menschlicher, desto verbindender mit anderen. Dann steh ich da, begegne einem Menschen, der mich einfach nur hört und versteht. Ja, wie natürlich. Ich lebe mein Leben, und damit das Leben. Nichts Menschliches ist mir fremd.

"Mein Eigenes" leben

Besonders schwer ist es, mein Eigenes ganz zu leben. Oft stehen alte Muster und Strukturen im Weg, die verabschiedet werden wollen. Manchmal sind es auch Menschen, wo es jetzt scheinbar einfach nicht weiter geht. Ein neuer Impuls ist da, und wenn er nicht ausgelebt wird, auf welche Weise auch immer, dann ist das innere Gewalt. Innere Freiheit ist, diese Impulse wirklich da sein zu lassen. Wie unterstützend ist da ein Umfeld, "wo alles sein darf".

Dialektik zwischen Gemeinschaft und Individuum

Die eigene Freiheit zu erlangen muss nicht unbedingt im Widerspruch zum Kollektiv sein. Erst durch die Gemeinschaft bekomme ich viele Möglichkeiten, die ich ohne ihr nicht frei wählen könnte. Es darf nur nicht zu einer einseitigen Abhängigkeit kommen. Ich weiß, ich bin grundsätzlich frei, und ich entschließe mich freiwillig dazu, mich in eine Gruppe von Menschen einzubinden. Das sollte nicht meine Freiheit einschränken, sondern ganz im Gegenteil, mich darin bestärken, mein Eigenes ganz leben zu können. "Mein Eigenes" kann und will ich ja nicht alleine erleben, und daher brauche ich den Mut zur Abhängigkeit, die mich nicht fesselt, sondern aufblühen lässt.

Oder wie Christian Felber es benennt:

„Der höchste Grad der Freiheit ist nicht, dass wir unser eigenes Leben in die eigene Hand nehmen, sondern dass wir das Zusammenleben gemeinsam aktiv gestalten – nach Werten, die die Gemeinschaft gelingen lassen."

Samstag, 21. November 2009

You can’t hate someone whose story you know

by Margaret Wheatley

Listening to someone. Simply listening. Not advising or coaching, but silently and fully listening. Whatever life we have experienced, if we can tell someone our story, we find it easier to deal with our circumstances. I have seen the great healing power of good listening so often that I wonder if you’ve noticed it also.

There may have been a time when a friend was telling you such a painful story that you became speechless. You couldn’t think of anything to say, so you just sat there, listening closely, but not saying a word. And what was the result of your heartfelt silence, of your listening?

A young, black South African woman taught some of my friends the healing power of listening. She was sitting in a circle of women from many nations, and each woman had the chance to tell
a story from her life. When her turn came, she began to quietly tell a story of true horror—of how she had found her grandparents
slaughtered in their village. Many of the women were Westerners, and in the presence of such pain they instinctively wanted to do something. They wanted to fix it, to make it better—anything to remove the pain of this tragedy from such a young life. The young woman felt their compassion, but also felt them closing in.
She put her hands up, as if to push back their desire to help. She said: “I don’t need you to fix me. I just need you to listen to me.”

Why is being heard so healing? I don’t know the full answer to that question, but I do know it has something to do with the fact that listening creates relationship.

We know from science that nothing in the Universe exists as an isolated or independent entity. Everything takes form from relationships, be it subatomic particles sharing energy or ecosystems sharing food. In the web of life, nothing living lives alone. Our natural state is to be together. Though we keep moving away from each other, we haven’t lost the need to be in relationship.

Everybody has a story, and everybody wants to tell their story in order to connect. If no one listens, we tell it to ourselves
and then we go mad. In the English language, the word for health comes from the same root as the word for whole. We can’t be healthy if we’re not in relationship. And whole is from the same root word as holy. Listening moves us closer; it helps us become more whole, more healthy, more holy. Not listening creates fragmentation, and fragmentation always causes more suffering.

How many teenagers today, in many lands, state that no one listens to them? They feel ignored and discounted, and in pain they turn to each other to create their own subcultures. I’ve heard two great teachers—Malidoma Somé from Burkina Faso in West Africa, and Parker Palmer from the United States— both make this comment: “You can tell a culture is in trouble when its elders walk across the street to avoid meeting its youth.” It is impossible to create a healthy culture if we refuse to meet, and if we refuse to listen. But if we meet, and when we listen, we reweave the world into wholeness. And holiness.

I love the biblical passage: “Whenever two or more are gathered, I am there.” It describes for me the holiness of moments of real listening. The health, wholeness, holiness of a new relationship forming. I have a T-shirt from one conference that reads: “You can’t hate someone whose story you know.” You don’t have to like the story, or even the person telling you their story.

But listening creates a relationship. We move closer to one another.

Freitag, 16. Oktober 2009

Entwicklung gestalten I

Heute beginnt also der Kurs Entwicklung gestalten im Paulo Freire Zentrum. Neben meiner Visionquest-Ausbildung, meiner Übungsgruppe zur kooperativen Kommunikation und dem Soziokratieübungskreis einer meiner präsentesten Lerngruppen diesen Herbst. Was ich mir erhoffe?

Voll da zu sein

MIt dem, was mir wichtig ist. Auch jetzt gerade halte ich immer wieder inne, zögere, ja, kann ich das jetzt einfach so schreiben? Und kann ichs heut einfach so sagen? JAAAHHHAAA! Worin ich mich wirklich noch vertiefen möchte, ist ein Gesellschaftsmodell, wo wir "soziokratisch", kooperativ und uns bspw. nach Paulo Freires Befreiungspädagogik orientieren. Wenn ich so ins Visionieren komme, kommt relativ bald ein Lern-, Lebens- und Bildungszentrum, wo Menschen zusammenleben, lernen, arbeiten, inspirieren, tanzen, auf nachhaltige Weise versorgen... Dieses Bild habe ich schon öfters erfahren: Details

Transdisziplinär?

Wenn ich jetzt bei Paulo Freire bleibe, der sich ja für die "Unterdrückten", für die unteren (Einkommens)Schichten, eingesetzt hat, frage ich mich: Ja, wie ist es jetzt damit. Ist es meine Verantwortung, mich besonders für jene einzusetzen, die es "brauchen"? Bin ich überhaupt in der Lage das angemessen zu bewerten? Ist es nicht das Selbe wie in der Entwicklungspolitik: Das wir als "entwickelte" Länder ja viel mehr zu lernen haben als alle anderen, immerhin haben wir einiges "im Süden" zerstört (und tun es immer noch), während "der" Stress uns scheinbar zwingt, noch schneller weiter zu machen.

Ich habe keine Ahnung

Ah, wie erleichernd. Deswegen zieht mich auch nicht die Parteipolitik an, denn hier darf ich nicht sagen "Ich weiß es nicht". Sonst wird ja die Wählerschaft verunsichert. Diese Unsicherheit gibts halt nun mal. Da hilft auch kein fix eingehaltenes Fernsehprogramm. Ui, jetzt werde ich sarkastisch. Dabei wollte ich nur mein Unwissen auskosten, es ist sooo entspannend. Ob wir damit Entwicklung gestalten können? Alleine damit nicht, aber für mich spiegelt es eine konstruktive Grundhaltung. Ich mein damit nicht das resignierende "keine Ahnung", sondern das neugierige! Und so lausche ich sowohl meinen als auch anderen Impulsen umso genauer nach, um es näher nachvollziehen zu können und gestalte damit die Entwicklung von: Gedankenschleifen, Gesprächen und... ?? Keine Ahnung! ;-)

Mittwoch, 30. September 2009

Leben verstehen

von Soren Kiegekaard

Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.
Leben aber muss man es vorwärts.

Donnerstag, 27. August 2009

Negation der Freiheit

Mit nachfolgendem Brief wandte sich Evo Morales am Dienstag (10. Juni) gegen die geplante Abschieberichtlinie der EU. Das Dokument wurde in Bolivien im Internet veröffentlicht und von den Botschaften verbreitet. (Quelle: http://www.gbw-wien.at/?art_id=514)

Evo Morales Ayma | 29.06.2009

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Europa ein Kontinent der Emigranten. Dutzende Millionen Europäer gingen nach Amerika, als Kolonisten, vertrieben von Hunger, Finanzkrisen, Kriegen oder auf der Flucht vor totalitären Regimen und der Verfolgung ethnischer Minderheiten.

Heute verfolge ich mit Besorgnis die Verhandlungen über die sogenannte Abschieberichtlinie der EU. Der Text, der am 5. Juni von den Innenministern der 27 Mitgliedsstaaten verabschiedet wurde, soll am 18. Juni im Europäischen Parlament zur Abstimmung stehen. Ich bin sicher, dass die Regelung auf drastische Weise die Voraussetzungen für Inhaftierung und Ausweisung von Migranten ohne Papiere verschärfen würde, wie lange sie sich auch schon in den europäischen Ländern aufhalten mögen; ungeachtet ihrer Arbeitssituation, ihrer familiären Beziehungen, ihres Integrationswillens und ihrer Integrationsfortschritte.

In die Länder Lateinamerikas und nach Nordamerika kamen die Europäer massenweise, ohne Visa und ohne Bedingungen, die ihnen von den Behörden gestellt wurden. Heute wie damals sind sie willkommen in unseren Ländern des amerikanischen Kontinents, der damals mit den Flüchtlingen auch das wirtschaftliche Elend Europas und seine politischen Krisen aufgenommen hat. Die Europäer waren auch auf unseren Kontinent gekommen, um seine Reichtümer auszubeuten und nach Europa zu schicken. Der Preis für die Urbevölkerungen Amerikas war hoch, wie das Beispiel der Stadt Potosí am Fuße des Cerro Rico mit seinen berühmten Silberminen zeigt. Sie lieferten dem europäischen Kontinent seit dem 16.Jahrhundert und bis zum 19.Jahrhundert den Rohstoff für Münzen.

Die europäischen Migranten, ihr Hab und Gut sowie ihre Rechte wurden bei uns immer respektiert.

Wirtschaftsfaktor Migration

Heute ist die Europäische Union das Hauptziel der Migranten der Welt. Der Grund ist der gute Ruf der Europäischen Union als Region von Prosperität und öffentlichen Freiheiten. Die Migranten kommen mehrheitlich in die EU, um zu dieser Prosperität beizutragen, nicht um sich ihrer zu bedienen. Sie wirken bei öffentlichen Arbeiten mit, in der Baubranche, im Bereich der Dienstleistungen und in Krankenhäusern. Sie übernehmen meist Tätigkeiten, die Europäer nicht ausüben können oder wollen. Sie tragen zur demographischen Dynamik des europäischen Kontinents bei, zur Aufrechterhaltung des notwendigen Verhältnisses zwischen aktiven und passiven Arbeitskräften, das seine großzügigen sozialen Systeme möglich macht. Sie geben dem Binnenmarkt neue Impulse und stützen den sozialen Zusammenhalt. Die Migranten bieten eine Lösung für die demographischen und finanziellen Probleme der EU.

Uns wiederum bieten die Migranten eine Hilfe zur Entwicklung, die uns die Europäer verweigern , da nur wenige Länder tatsächlich das Minimalziel von 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungshilfe aufwenden. Lateinamerika erhielt im Jahr 2006 indes 68 Milliarden US-Dollar Geldüberweisungen von Migranten. Das ist mehr das Doppelte der ausländischen Investitionen in unseren Ländern.

Weltweit erreichen diese Überweisungen von Migranten an ihre Familien 300 Milliarden US-Dollar. Dieser Betrag übersteigt die 104 Milliarden US-Dollar Entwicklungshilfe bei weitem. In meinem eigenen Land, Bolivien, entsprechen die Überweisungen mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes, rund 1,1 Milliarden US-Dollar und dem Wert eines Drittels unserer jährlichen Gasexporte.

Die Wirtschaftskraft der Migranten ist trotzdem vor allem für die Europäer von Vorteil und nur marginal für uns in der Dritten Welt. Wir verlieren Millionen unserer qualifizierten Arbeitskräfte, in die unsere Staaten, obwohl sie arm sind, unzählige Ressourcen investiert haben.

Leider verschlimmert die Abschieberichtlinie der EU diese Situation in erschreckender Weise. Auch wenn wir davon ausgehen, daß jeder Staat oder jede Staatengruppe die eigene Migrationspolitik in voller Souveränität definieren kann, können wir nicht akzeptieren, daß unseren Mitbürgern und lateinamerikanischen Brüdern die Grundrechte verweigert werden. Denn die EU-Abschieberichtlinie sieht die Möglichkeit der Einkerkerung der Migranten ohne Papiere bis zu 18 Monate vor. Danach folgt die Ausweisung oder ihre »Entfernung«, wie der exakte Terminus der Direktive lautet. 18 Monate! Ohne Urteil und Gerechtigkeit! Der vorliegende Entwurf der Richtlinie verletzt damit eindeutig die Artikel 2, 3, 5, 6, 7, 8 und 9 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Darin heißt es unter anderem: »Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen«. Und weiter: »Jeder hat das Recht, jedes Land, einsc
hließlich seines eigenen, zu ver
lassen und in sein Land zurückzukehren.«

Und was das Schlimmste ist: Es wird die Möglichkeit geschaffen, Mütter und Minderjährige, ohne ihre familiäre oder schulische Situation zu berücksichtigen, in Internierungszentren einzusperren. Die Folge sind Depressionen, Hungerstreiks und Selbstmorde. Wie können wir tatenlos akzeptieren, daß Mitbürger und lateinamerikanische Brüder ohne Papiere in Lagern eingepfercht werden? Und das, obwohl sie mehrheitlich seit Jahren dort gearbeitet haben und integriert sind. Auf welcher Seite besteht heute die Pflicht zu humanitärer Einmischung? Was ist mit der »Bewegungsfreiheit«, mit dem Schutz gegen willkürliche Haft?

Appell an das Gewissen

Parallel zu dieser Politik versucht die Europäische Union, die Andengemeinschaft (Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru) davon zu überzeugen, ein »Assoziierungsabkommen« zu unterzeichnen, das einen Freihandelsvertrag einschließt, der sich in Charakter und Inhalt nicht von den Verträgen unterscheidet, die die Vereinigten Staaten unseren Ländern aufzwingen.

Wir stehen unter intensivem Druck aus der Europäischen Kommission, die vollständige Liberalisierung im Handel, in den Finanzdienstleistungen, beim intellektuellen Eigentum und in unseren öffentlichen Diensten zu akzeptieren. Außerdem bedrängt man uns unter dem Vorwand des »juristischen Schutzes« wegen der Nationalisierung von Wasser, Gas und Telekommunikation, die wir am Internationalen Tag der Arbeit vorgenommen haben. Ich frage: Wo ist die »juristische Sicherheit« für unsere Frauen, unsere Jugendlichen, Kinder und Werktätigen, die in Europa bessere Aussichten suchen? Die Freiheit des Handels und der Finanzen soll gewährleistet werden, während wir unsere Brüder in Gefängnissen ohne Urteil sehen. Dies zu akzeptieren hieße, die Grundlagen der Freiheit und der demokratischen Rechte negieren.

Wenn die Abschieberichtlinie verabschiedet werden sollte, stehen wir vor einem ethischen Dilemma. Die Verhandlungen über Handelsfreiheit mit der EU könnten nicht vertieft werden. Wir behalten uns auch das Recht vor, für EU-Bürger die gleichen Visapflichten festzulegen, die den Bolivianern seit dem 1. April 2007 auferlegt werden. Bisher haben wir nichts unternommen, weil wir auf günstige Signale aus der EU gehofft haben.

Die Welt, ihre Kontinente, ihre Ozeane und ihre Pole sind von Problemen belastet: die globale Erwärmung, die Verschmutzung, der langsame aber sichere Verbrauch der Energieressourcen und die bedrohte Biodiversität. Hunger und Armut wachsen in allen Ländern und schwächen unsere Gesellschaften. Die Migranten, ob mit oder ohne Papiere, zu Sündenböcken für diese globalen Probleme zu machen, ist keine Lösung. (...) Diese Probleme sind das Ergebnis eines vom Norden aufgezwungenen Entwicklungsmodells, das den Planeten zerstört und die Gesellschaften der Menschen fragmentiert.

Im Namen des Volkes von Bolivien, aller meiner Brüder auf dem Kontinent und in Regionen der Erde wie dem Maghreb und den übrigen Ländern Afrikas richte ich einen Appell an das Gewissen der führenden europäischen Politiker und Abgeordneten, der Völker, Bürger und politisch aktiven Kräfte Europas: Die Abschieberichtlinie darf nicht verabschiedet werden. Es ist eine Direktive der Schande. Ich appelliere an die EU, in den nächsten Monaten eine Migrationspolitik zu erarbeiten, die die Menschenrechte respektiert, die es ermöglicht, diese vorteilhafte Dynamik zwischen den beiden Kontinenten zu erhalten. Ich appelliere an sie, die gewaltigen historischen, wirtschaftlichen und ökologischen Schulden zu begleichen, die die Länder Europas gegenüber einem großen Teil der Dritten Welt haben. Die offenen Adern Lateinamerikas müssen verheilen. (Anspielung auf das Buch »Die offenen Adern Lateinamerikas« des Uruguayers Eduardo Galeano, d. Red.)

Die »Integrationspolitik« darf heute nicht auf die gleiche Weise versagen, wie die »zivilisatorische Mission« in der Zeit der Kolonien gescheitert ist. Nehmen Sie alle, Regierungsvertreter, Europa-Parlamentarier, Compañeras und Compañeros, brüderliche Grüße aus Bolivien entgegen. Unsere Solidarität gilt besonders allen »Illegalen«.
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* Evo Morales Ayma amtiert seit Januar 2006 und ist der erste indigene Präsident der Republik Bolivien

Donnerstag, 9. Juli 2009

Keine Ausflucht, kein Problem

von Pema Chödrön aus "Beginne, wo du bist"

Wir haben schon alles, was wir brauchen. Es ist nicht nötig, besser sein zu wollen. All die Zwangsvorstellungen, die wir uns auferlegen - die dauernde Angst, schlecht zu sein, die dauernde Hoffnung, gut zu sein, die Identitäten, an die wir uns so heftig klammern, die Wut, der Ärger, das Suchtverhalten - all das kann unseren ureigenen Reichtum nicht antasten. Diese Vorstellungen sind wie Wolken, die vorübergehend die Sonne verdunkeln. Doch die Sonne, die Wärme und der Glanz eines jeden von uns, ist die ganze Zeit über da. Sie ist, was wir sind. Wir sind nur ein Augenzwinkern vom vollständigen Erwachen entfernt.

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c4luxe - 30. Jul, 17:36

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Zuletzt aktualisiert: 9. Aug, 04:21

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